Sonntag, 22. Februar 2015

Philosophie als Heilkunde

Wenn wir uns in die Werke der großen Philosophen vertiefen, stoßen wir immer wieder auf das gleiche Bild:
der eigentliche Wert liegt nicht in den Gütern, die ja nur eine Zierde des Vergänglichen darstellen, sondern der wirkliche Wert ist jener den sich Seele und Geist selbst am Stoff des Daseins erkämpfen. Philosophisches Denken ist neben der Suche nach fruchtbaren Gründen auch immer Kampf. Goethe beschrieb in seinen Faust die Irrfahrt des ewig nach den Genüsslichkeiten des Lebens Strebenden, der aber zuletzt nichts anderes nach Hause bringt, außer seiner geläuterten Seele. Kant ging schon sehr viel weiter, wenn auch trockener als Goethe, er suchte den Sinn der Sittlichkeit und Moral in keinem weltlichen Tun, sondern in der Reinheit des Willens, der das Gute um des guten willen sucht.
Was für den Philosophen als Suche nach den Urgründen des menschlichen Geistes beginnt, wird in der praktischen Philosophie zur Daseinsgestaltung. Aus den Geistesfrüchten die er findet gestaltet er sein Leben. Eine solche Lebensgestaltung ist keineswegs leicht, denn eine Horde von dümmlichen Geistern, von Robotern und eindimensionalen Menschen, werden sich ihm immer wieder in den Weg stellen. Diese Menschen bilden nun einmal die Mehrheit unserer Gesellschaft und ihre Abwässer beschmutzen auch die Sinne, des nach philosophischer Wahrheit strebenden. Diesen Schmutzwässern, begegnet der praktische Philosoph, in dem er diesen einen Damm entgegensetzt: er benutzt seine Philosophie als Heilmittel gegen die Infamitäten des Lebens.
Die Abwässer schlagen zwar wuchtig an die Mauern, aber sie finden keinen Eingang in das Innerste, das Oratorium bleibt rein. Dieses "Innerste" ist des Philosophen wahre Heimat. Und in diesem Innern bewahrt er seine gesammelten Weisheiten des Lebens auf. Man kann sich Weisheiten anlesen, doch erst wenn wir diese in unserem täglichen Leben praktisch umsetzen können, werden sie uns zur weiterführenden Erfahrung.
Nun wenn der Mensch viele Weisheiten angesammelt hat, müsste er ja ein "Weiser" sein? Ob dem so sei dies sei dahingestellt. Weisheit in dem Sinne wie ich sie meine ist eigentlich nichts anderes als Existenzerhellung. Ein Weg zur Existenzerhellung ist das Leben der praktischen Philosophie, wenn sie sich mit der metaphysischen Wesensart des Menschen beschäftigt. Dies findet seinen Ausdruck am ersten in der Selbstbefragung, die sich in der Gewissensentscheidung vollziehen wird und sich sowohl auf die Verantwortung für die persönliche Welt, als auch auf die Gestaltungen der größeren Daseinsordnungen erstreckt. In dem ich mein tiefstes Wesen befrage, beginne ich mit der Gestaltung meines Daseins. Mit dieser Selbstbefragung, beginnt auch die Freundschaft mit der Philosophie. Die Hinwendung zum philosophischen Denken, zu einem philosophischen Lebenswandel, beginnt immer mit der Befragung des eigenen Selbst. Wir wissen von Plato das er seine "Wächter", nach dem sie ihm die höchsten Schauungen gezeigt hatten, wieder dazu zwang in die "Höhle" zurückzukehren, damit er sich wieder dem Druck der irdischen Realität stellen konnte. Das ist praktische Philosophie, die Welt nicht vergessen und doch seine
metaphysische Heimat zu kennen. Durch eben diese Heimat, kann der Philosoph nie Heimatlos werden, denn über diese Heimat ist seine Seele unlöslich mit den Großen in der Kulturgeschichte hervortretenden Gestalten verbunden.
Man kann soviel Lesen wie man will, es hilft uns zweifelsohne bei der Suche nach Erkenntnis, doch nur das was wir in uns selbst finden, ist auf dem Erkenntnisweg verwertbar. Denn die Erkenntnis, die wir in uns selbst finden
ist für uns etwas wie ein wirklicher Beweis, ein Beweis das der suchende Mensch immer ein "werdender" sein wird.
Ein "werdender" im Sinne Goethes der den Menschen und sein Leben als Metamorphose sah – werde der du bist-

Zeitlos – Gedanken über ein Gedicht von 1780 oder
Nun wollen wir "weitergehen"
von Hans Wagner geschrieben im November 1994 Trippstadt am Sängerhain

Es war im Spätsommer des Jahres 1780. Goethe war die Last des geräuschvollen Hoflebens in Weimar unerträglich geworden. Wohin sollte er sich wenden? Das war ihm jetzt fast gleichgültig. Nur fort von den Stätten, an denen er keine Ruhe und Frieden finden konnte! Fort von den Menschen die ihn nicht verstanden!
Mit zerrissener Seele kam er nach Ilmenau im Thüringer Walde. Aber auch hier wo er sonst so gerne weilte, sich immer wohl gefühlt hatte, fand er die gesuchte Ruhe nicht. Unstet – friedlos irrte er durch die Gegend von Ilmenau.
An einem Spätnachmittag führte ihn der Weg nach einem nah gelegenen Berge – dem Kickelhahn.
Oben auf dem stillen, schön bewaldeten Berg hatte Herzog Karl August ein einfaches Jagdhäuschen bauen lassen, von dessen obersten Stockwerk aus man eine herrliche Aussicht genoss. Goethe weilte acht Tage in diesem Waldhäuschen, das später von Rottannen überragt wurde. Es war in diesen Tagen, an einem unvergesslich schönen Abend, als der Dichter, wieder durch das geöffnete Fenster hinausschaute, weit über den schweigsamen Wald hinweg blickend. Ja, hier war Ruhe und Frieden. Wie er die Stille genoss! Lange stand er dort, das Haupt sinnend gegen das Fensterkreuz gelehnt. Wie Goethe so sann, formte sich in seiner Seele ein Gedicht, ruhig und doch wieder leicht bewegt wie die Abendluft, die über dem schweigenden Wald Herbstwald wallte. Allmählich glätteten wohl sich die finsteren Falten in seinem Gesicht.
Dann nahm er einen Bleistift zur Hand, und während der Dichter das Lied leise sprach, schrieb er es an eine Stelle der Holzwand neben dem Fenster des Jagdhäuschens. "Ein Gleiches". Hoch oben steht der Dichter, auf ragender Bergeskuppe, ringsherum so weit das Auge im Dämmerlichte schweifen kann, erheben sich sanft gerundete Höhen. Sie schmiegen sich an ihre großen Brüder, als suchten sie Schutz für die Nacht. Das Wort Zeit existiert nicht mehr, weder für Berge, Busch noch für den Dichter. Vom Bilde des weiten Bergwaldes gleitet der Blick auf einzelne, den Standort des Dichters umsäumende Stämme. Sinnend haftet das Auge an Ästen und Blättern. Still, halte den Atem an, damit du die Ruhe nicht störst! Es ist egal ob wir das Jahr 1780, 1800, 1900 oder 2000 schreiben. Ruhe!
Goethe verließ den Kickelhahn, vergaß das Gedicht. 51 Jahre später besuchte der Lebensmüde Greis, einen Tag vor seinem 82. Geburtstag mit dem Bergrat J.C.H. Mahr nochmals den Kickelhahn. Man berichtete was Goethe unter anderem damals zu ihm sprach..." Ich habe in früherer Zeit in dieser Stube mit meinem Bedienten im Sommer acht Tage gewohnt und damals einen kleinen Vers hier an die Wand geschrieben. Wohl möchte ich diesen Vers nochmals sehen, und wenn der Tag darunter bemerkt ist, an welchem es geschehen, so haben sie die Güte, mir solchen aufzuzeichnen." Sogleich führte ich an das südliche Fenster der Stube, an welchem linke geschrieben steht:

Über allen Gipfeln ist Ruh,
in allen Wipfeln spürest du
kaum einen Hauch;
Warte nur balde
ruhest du auch.
D. 7. September 1780 Goethe

Goethe überlas diese wenigen Verse, und Tränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach, in sanften, wehmütigen Ton: "Ja warte nur balde ruhest du auch," schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in den düsteren Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir mit den Worten: "Nun wollen wir wieder gehen!"

Dieses nenne ich ein reales Weltgedicht und eine Metamorphose !

Abend im Wald am Sängerhain
Hans Wagner 1994

Ich möchte die Tage nicht so dahin leben
ohne ihnen ein kleines Geheimnis abzuringen
wachsam will ich sein
wie der Zaunkönig – dort –
auf dem Sandstein
die Heideröschen blühen wieder
Gott schenkt sie uns als lebende Funken
ein Tag im Wald
rauschende Baumwipfel
ihr Getöse vermengt sich mit dem Gezwitscher der Vögel
Stimmungen zwischen den Sekunden
ich schaue die wilde Rose an
der ganze Busch
ein gefallener Engel.

hukwa